„Das ist ja moderne Leibeigenschaft!“

13. Januar 2011

Ein Monatslohn von 160 Euro? Für "Aufstocker" kann das Realität werden. Der bundesweite Trend zum Lohndumping ist auch im Norden zu spüren.

Schönheit hat ihren Preis – nicht aber die Arbeit, die dahinter steckt. Im Friseurhandwerk benötigen viele Arbeitnehmer staatliche Hilfe.

Eine Bürokraft, die 4,74 Euro Stundenlohn bekommt, ein Web-Entwickler in Festanstellung, der mit einem Stundenlohn von 3,75 Euro nach Hause geht, eine Haushaltshilfe, die pro Stunde drei Euro erhält, oder ein Pizzafahrer, dessen Dienst mit 4,35 Euro pro Stunde entlohnt wird. All das sind aktuelle Fälle und ein Bruchteil dessen, was die Ordner in den Sozialzentren des Kreises füllt, in denen sich die Anträge der so genannten "Aufstocker" sammeln – in immer schnellerem Tempo. Hier wird an der Basis greifbar, was längst bundesweiter Trend ist: Die Agentur für Arbeit verkündet eine stetige Abnahme der Arbeitslosenzahlen, zugleich aber steigen die Soziallasten bundesweit auf nie da gewesene Höhen.

Die Entwicklung ist mit Zahlen zu greifen: Fast 3,5 Millionen Euro werden im Kreis und in Flensburg monatlich aus Steuergeldern bezahlt, um Arbeitnehmern über die Hürden zu helfen, die trotz Beschäftigung nicht genug für ihren Lebensunterhalt verdienen. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken-Fraktion im Bundestag hervor. Demnach ist jeder vierte Arbeitnehmer im Kreis Schleswig-Flensburg im Niedriglohnbereich beschäftigt (27,5 Prozent) und muss "aufstocken", darunter viele alleinerziehende Frauen in Teilzeit. Mancher Arbeitgeber nutzt die entsprechenden Regeln der Hartz-IV-Gesetzgebung aus, um Lohnkosten zu sparen. Bei der Sozialverwaltung sieht man es mit Sorge, kann jedoch kaum etwas dagegen tun.

Nicht mehr Geld, aber weniger Kontrolle?

In dem Schreiben eines Arbeitgebers, das der Redaktion vorliegt, wird einem Arbeitnehmer bei einer 39-Stunden-Woche ein Verdienst von 160 Euro bescheinigt. Das Schreiben ist an eines der Kreis-Sozialzentren gerichtet und dient der Beantragung einer "Aufstockung". Das Arbeitsverhältnis geht offenkundig aus einem geförderten Ein-Euro-Job hervor. Der Arbeitnehmer wird geködert mit der Aussicht, zwar nicht mehr Geld als zuvor zu verdienen, aber dem Ärger und der Kontrolle durch das Sozialzentrum zu entgehen. Kein Einzelfall.

"Das deckt sich mit unseren Erfahrungen", sagt Ute Dirks von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in Schleswig. Im vergangenen Jahr hatte die Gewerkschaft eine große Aktion gegen Billigjobs und für Mindestlöhne initiiert. Dabei hätten sich zwar zahlreiche Betroffene gemeldet, sagt Dirks. Aus der Anonymität heraus gewagt habe sich nicht ein einziger. Dirks: "Aus Angst um ihren Job und davor, wieder in Hartz IV hineinzugeraten." Ein Monatsgehalt von 160 Euro sei ihr aber noch nicht untergekommen, so Dirks entsetzt. "Das ist ja moderne Leibeigenschaft! Entweder Du akzeptierst, oder Du landest wieder in der Tretmühle."

Auch einen weiteren belegbaren Fall bezeichnet die Gewerkschafterin als "unglaublich": Ein Einzelhändler aus dem Kreisgebiet, der einem Mitarbeiter nur 4,50 Euro brutto pro Stunde zahlt, hat beim Sozialzentrum einen Antrag auf Eingliederungshilfe gestellt. Das heißt: noch einmal 50 Prozent Gehaltsrabatt. Für den Job zahlt der Steuerzahler also gleich doppelt: Aufstocker-Mittel und Eingliederungszuschuss.

Erste Prozesse gegen Arbeitgeber

Martje Haese, Fachdienstleiterin Regionale Integration beim Kreis, bezeichnet diesen Fall staatlich subventionierter Arbeit als "besonders dreist", muss aber zähneknirschend zugeben, dass der Behörde die Hände gebunden sind. "Solche Arbeitsverträge sind formal förderungsfähig. Ob sie auch förderungswürdig sind, steht auf einem anderen Blatt." Arbeitsrechtliche Schritte gegen sittenwidrige Dumpinglöhne seien aus Sicht des Bundesarbeitsgerichtes erst dann möglich, wenn weniger als zwei Drittel des örtlichen Stundenlohns gezahlt würden, erklärt Haese und betont, dass in Mecklenburg-Vorpommern die Arbeitsverwaltung ihre Gangart inzwischen verschärft und erste Prozesse gegen Arbeitgeber in Gang gesetzt habe.

Sowohl aus Sicht von Verdi als auch des Kreises gibt es Branchen, die besonders in dem Ruf stehen, mit Billiglöhnen zu arbeiten. Dazu zählen das Gastgewerbe und das Friseurhandwerk, teilweise auch der Einzelhandel sowie Arbeitgeber aus dem sozialen Bereich – dort, wo es weder Mindestlohn-Vereinbarungen noch Tarifverträge gibt.

Arbeitsfelder, aus denen in der Vergangenheit die meisten Klagen kamen, gehören laut Verdi nicht mehr zu den Problemfällen im Kreis. Sowohl im Baugewerbe als auch in der Altenpflege hätten inzwischen Mindestlöhne Einzug gehalten. Das spiegele sich auch in den Aufstocker-Anträgen in den Sozialzentren wider, bestätigt Haese und entlastet eine weitere Branche, die häufig in die Schlagzeilen geraten war, die der Callcenter. "Aus diesem Bereich haben wir zurzeit nicht einen Vorfall vorliegen."

Quelle: http://www.shz.de/nachrichten/top-thema/article//das-ist-ja-moderne-leibeigenschaft-1.html

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